Leid als Folge der Freiheit
Gott unter Anklage?

 Reinhard Agerer

.

Untenstehend die Langfassung eines gekürzten Beitrags erschienen in Die Tagespost 76, Nr. 47, Seite 25, vom 23. November 2023

Als Vortrag zu sehen bei Bonifatius.tv:

.

Trifft jemanden oder eine Gruppe von Menschen unverständliches Leid, so wird immer wieder – auch von gläubigen Christen – die Frage gestellt: „Wo war da Gott?“ Mit dieser Theodizee-Frage – die etwa bedeutet: Wie will Gott dieses Leid rechtfertigen? – scheint man Gott immer wieder anzuklagen, seine Macht und seine Güte zu hinterfragen: Warum lässt er dieses Leid zu, warum tut er nichts dagegen? Schickt er es? Warum gerade mir? Ist Gott nicht die Liebe? Und nun dies!? Solche Fragen treiben uns immer wieder um. Aber es lohnt sich nachzudenken, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, Leid – in seinen verschiedenen Formen – wenigstens ansatzweise zu verstehen und nicht in eine Gottesanklage oder sogar Ablehnung Gottes zu verfallen.

Zunächst soll hier der Frage nach der Vielfalt und Art des Leids nachgegangen werden.

Es gibt Leiden und Quälereien, die wir uns selbst zufügen. Wenn wir zum Beispiel durch strenges Fasten etwas für den Körper erreichen wollen, nehmen wir für unsere Gesundheit Ungemach in Kauf; oder wir quälen uns sportlich oder sonstwie, sogar durch Schönheitsoperationen, ein erhofftes Ziel zu erlangen. Wir bringen uns selbst in Gefahr, weil wir Herausforderndes wollen – Extremtouren auf Berggipfel, nächtliche Schiabfahrten in Bergen, oder das Tauchen zur Titanic. Auch Berufssportler ließen hier sich nennen, die für Karriere und Geld sogar schwere Verletzungen in Kauf nehmen. Solches Leid, sogar Qual, wird von manchen Menschen bewusst in ihre Kalkulationen einbezogen.

Bei der Theodizee-Frage geht es jedoch um Leid, das wir spüren, wenn wir ernstlich krank werden, einen Unfall erleiden, unser Kind stirbt, ein junger Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Vergessen wir nicht die Kinder, jedes einzelne, werden sie abgetrieben, auch jeden Erwachsenen, wird er gequält, gar gefoltert, ermordet; Menschen verhungern, sterben vor Auszehrung, oder unter Trümmern bei Erdbeben, bei Bombardierung. Denken wir an das Leid aller Märtyrer, die seit Anbeginn des jüdischen und christlichen Glaubens bis heute um des Glaubens willen in den Tod gehen mussten.

Das Leid hat – wie wir sehen – eine ungeheure Dimension. Wie viele Tote der derzeitige Krieg Russlands gegen die Ukraine an Zivilisten und Soldaten bereits gefordert hat, bleibt wohl noch lange im Dunkeln. Gezählt sind hingegen die Opfer des Erdbebens in der Türkei und Syrien im Februar 2023; zu den 52 000 kommen dort noch Hunderttausende von Verletzten hinzu, deren Schmerzen und Leid kaum jemand sich vorstellen kann. Was erlitten damals zur Weihnachtszeit 2004 die 230 000 Toten des Tsunamis? Die noch Davongekommenen? Siebzehn Millionen Menschen hat der 1. Weltkrieg auf dem Gewissen, 50 Millionen sollen es im 2. Weltkrieg gewesen sein; die Zahl der Verletzten kennt wohl niemand in diesen Kriegen, ganz abgesehen von den Leiden der Flüchtenden, der Vertriebenen. Wer kennt die Leiden der KZ-, der Gulag-Insassen, den unsäglichen Schmerz von sechs Millionen ermordeten Juden? Wer zählte die Ermordeten des Genozids in Ruanda 1994? 800 000 bis eine Million sollen es gewesen sein. Wer denkt noch an die Opfer des mordenden Pol-Pot Regimes in Kambodscha in den siebziger Jahren? Von rund zwei Millionen wird gesprochen. Im Dunkeln bleibt zudem alles Leid der Menschen seit der Entstehung, der Erschaffung der ersten Menschen, vor vielen Zehntausenden Jahren. Ausgrabungen lassen uns manches erahnen, bis dann die Geschichtsschreibung erstmalig Ereignisse festhält.

So war das verheerende Erbeben in Lissabon am 1. November 1755 mit anschließender Feuersbrunst und Tsunami mit 30 000 bis 100 000 geschätzten Opfern dann maßgebender Anlass, über Allmacht, Allgegenwart und Liebe Gottes nachzudenken und die eingangs erwähnte Theodizee-Frage aufzuwerfen. Zweifel wurden damals sogar geäußert, ob Gott wirklich existiere. Warum Gott so etwas zuließe, falls es ihn gäbe?

Doch gehen wir noch einmal zurück in der Geschichte. 79 n. Chr. brach der Vesuv aus und verschüttete die römischen Städte Pompeij und Herculeanum. Zweitausend Tote konnten gefunden werden von etwa zwanzigtausend Einwohnern. Flüchteten die meisten? Waren Juden und erste Christen dabei, die nach dem großen Krieg um Judäa 70 n. Chr., mit gut einer Million Toten, nach Rom geflüchtet waren? Ein weiteres Beispiel: Vor gut 3500 Jahren brach der Inselvulkan Thera in der Ägäis aus, wonach nur noch die heutigen ringförmigen Inselreste Santorins übrigblieben. Zwei- bis dreimal stärker soll der Ausbruch des Thera gewesen sein als dies beim Ausbruch des Krakatau 1883 n. Chr. der Fall war mit 30 000 Toten, des Vulkans im heutigen Indonesien zwischen Sumatra und Java gelegen. Die minoische Kultur wurde durch die Explosion des Thera, so wird vermutet, zerstört. Ascheregen und Tsunamis verwüsteten das Leben damals rundum bis nach Kreta hin.

Gibt es Leid erst, seit es Menschen gibt? Wir verlassen zum Bedenken dieser Frage die historische Zeit, und begeben uns zu Perioden, in denen noch nichts Menschenähnliches existierte.

Welch eine Katastrophe war der Asteroideinschlag vor 66 Millionen Jahren, dessen Spuren wir heute noch rund um die Halbinsel Yucatan in Mexiko, nachvollziehen können! Dieses Ereignis markiert das letzte der fünf großen Aussterbe-Ereignisse auf unserm Planeten. (Einzelheiten führen hier zu weit. Jeder kann sich in einschlägigen Büchern und Internetseiten darüber informieren).

Vierzehn km Durchmesser soll der Asteroid gehabt haben, im zerstörerischsten Aufprallwinkel die Erde getroffen, extreme Erdbeben ausgelöst, überschallschnelle Druck- und Hitzewellen verursacht, Riesentsunamis den Anfang gegeben haben. Schauerartiger Gesteinsregen begleitete das Ereignis, Staub- und Rußwolken umhüllten die Erde, dunkelten die Sonne ab; Fotosynthese der Pflanzen war nicht mehr möglich, Kälte brach ein. Die schwersten Schäden erlitt die Nordhemisphäre, besonders Nordamerika. Grundstürzend wirkte sich dieser Einschlag des Asteroiden auf die Welt aus.

Verschiedenste Hinweise belegen als Folge dieser Katastrophe das Aussterben der Dinosaurier. Nur ein Teil der damaligen Vögel überlebte und entwickelte sich zur heutigen Vogelfauna weiter. Hauptsächlich traf der Tod Landtiere, besonders die Pflanzenfresser, sollten manche zunächst noch überlebt haben, denn ihre Nahrung wuchs nicht mehr nach. Von Säugetieren gab es damals noch sehr wenige, aber recht kleinwüchsige Arten. Ihrer Kleinheit wegen und weil sie wohl Allesfresser waren, konnten sie sich am Leben erhalten und wurden Ausgang für die Vielfalt der heutigen Säugetiere. Wahrscheinlich 75 Prozent aller Landtierarten fielen dem Asteroideneinschlag und seinen Folgen zum Opfer. Damals war aber noch keine Rede von uns Menschen! Welches Leid, welche Qualen, brachen damals über die Tiere herein!

Ein letztes Beispiel kann uns nochmals in lang vergangene Zeiten versetzen, an das Ende des geologischen Zeitalters Perm, dem Ende des Erdaltertums, vor etwa 252 Millionen Jahren, als das größte Massenaussterben des Globus stattfand. Schätzungen gehen davon aus, dass drei Viertel aller Landlebewesen und neunzig Prozent aller Lebewesen in Ozeanen damals verschwanden. Gewaltige vulkanische Aktivitäten in Sibirien waren anscheinend der Auslöser, worauf gigantische Mengen CO2 in die Atmosphäre gelangten, Temperaturen anstiegen, Meere versauerten und eine Kaskade ökologischer Umwälzungen in Gang brachten. Die Lebensverhältnisse auf der Erde gerieten katastrophal ins Ungleichgewicht, die Lebensgrundlagen vieler Organismen waren zerstört. Weltweit traf diese Katastrophe die damaligen Wirbeltiere. Auch Nichtwirbeltiere litten darunter. Dies alles war noch vor der Zeit der Dinosaurier. Niemand wird wohl Leid und Qual in Abrede stellen, das damals die Tiere traf. Und dass Tiere leiden können, das kennt jeder, dem Tierschutz am Herzen liegt, auch jeder, der ein geliebtes Haustier hat.

Die Frage nach dem Ursprung des Leids.

Versuchen wir etwas Ordnung in all dies zu bringen, so fällt als erstes Leid auf, das nicht uns Menschen betraf. So die katastrophalen Ereignisse vor 252 und vor 66 Millionen Jahren, die nicht uns Menschen, wohl aber Tiere – lassen wir Pflanzen beiseite – in höchstem Maß leidvoll bedrängten. Naturkatastrophen ziehen sich bis in unsere Gegenwart, zwar nicht in dieser planetenbewegenden Weise, doch werden neben den Menschen in vielerlei Hinsicht auch Tiere in Mitleidenschaft gezogen. Denken wir nur an das Zittern von Haustieren bei verschütteten Menschen, Leid und Angst von Tieren, wie Pferden, Kühen. Erinnern wir uns an Tsunamis, Erdbeben, Feuersbrünste und Pandemien. Wie viel Leid trifft Mensch und Tier völlig unverschuldet und unerwartet.

Doch nicht nur Naturkatastrophen bedrohen uns, sondern Vorfälle, wie Erkrankungen, plötzlicher Krebs, irreguläre Chromosomenzahlen bei Kindern, mit unheilbaren Krankheiten geborene Menschen, tiefe psychische Leiden; auch Schmerzen, die uns vor etwas warnen.

Viele Leiden haben ihren Grund in der Entwicklung der Erde, in der Evolution. So entwickelten sich manche Lebewesen zu Parasiten, die Mensch und Tier befallen können oder Nahrungsgrundlagen zerstören. Auch sind etablierte Nahrungsketten bei Tieren im Grunde ‚Leidensketten‘, wenn zum Beispiel eine Löwin eine Gazelle durch Genickbiss schlägt, wenn Tiere ihrer Beute den Hals zudrücken, bis sie vor Atemnot sterben, oder Hyänenhunde ein Gnu niederringen und es bei lebendigem Leibe zerfleischen.

Unter ‚natürlichem Leid‘, wie es oft genannt wird, könnte man diese Kategorie zusammenfassen. Doch scheint mir diese Bezeichnung aus zweierlei Gründen wenig hilfreich: Zum einen berücksichtigt sie nicht den Menschen als Teil der Natur. Auch er selbst bewirkt Leid durch seine reine Existenz, wenn er beispielsweise durch seinen Raumbedarf gewohnte Lebenswelten von Tieren zerstört, ihre zum Arterhalt nötigen Großareale zerstückelt. Zum zweiten wird mit dieser Bezeichnung nicht der eigentliche Grund für diese Leiden benannt. Er liegt, wie ich hier darzulegen versuchte, in der Entwicklung unseres Planeten und in der Entwicklung der Natur. Mir scheint der Begriff „Evolutionsbedingtes Leid“ besser geeignet, naturverursachtes Leid zu umschreiben.

Eine zweite Kategorie lässt sich aus den eingangs zusammengestellten Formen von Leid herausarbeiten: oft bezeichnet als ‚moralisches Leid‘. Es ist das Leid, wofür der Mensch und nur er selbst durch bewusste Taten verantwortlich ist. Wenn er aus Habsucht Kriege führt, Morde, begeht, in seiner Selbstverwirklichung sich gestört fühlt und abtreiben lässt, ein Arzt Geld für Tötungen nimmt. Wenn Menschen nicht als Brüder und Schwestern betrachtet werden, sie abqualifiziert, andere als minderwertig, als Nichtmenschen, als minderwertige Rasse gesehen werden. Wenn man anderen Menschen die Würde, das Lebensrecht abspricht, sie tötet, ganze Gemeinschaften, Völker, auslöscht; Mitmenschen wegen ihres Glaubens oder weil sie einer herrschenden Ideologie nicht folgen, quält und verfolgt; Ausbeutung von Menschen durch beschämenden Lohn oder durch Spottpreise für Bodenschätze fremder Länder und vieles mehr.

Neben diesem ‚moralischen Leid‘ aufgrund von Verantwortungslosigkeit des Menschen, sehe ich doch auch noch anderes Leid, das Mensch und Tier treffen kann, das nicht so einfach mit Moral oder Schuldzuweisung zu erklären ist: Überalterte Bauwerke, gefährliche Gebäude, Brücken, Stauwehre, und vieles andere können zu Leid und Tod führen. Nicht wenig Leid wohl wird auch Tieren zugefügt, falls ihnen nicht genügend Raum zum artgerechten Leben gegeben werden kann, ja sie getötet werden müssen, damit sie uns Nahrung werden. So soll hier die von Menschen verursachte Leidkategorie etwas genauer, aber auch umfassender mit „Menschenbedingtem Leid“ umschrieben werden.

Leid lässt sich danach in zwei Großkategorien zusammenfassen: in „Evolutionsbedingtes Leid“ und „Menschenbedingtes Leid“.

Was hat Gott mit all diesem Leid zu tun?

Konnte Gott nicht all dieses Leid in seiner Allgegenwart sehen? Es mit seiner Allmacht verhindern? Gott ist die Liebe. Gerade diese wird im Dunkel des Leids immer wieder angezweifelt. Wo ist seine Liebe gewesen, als dies alles passierte?

Gott ist die Liebe, die vollkommene Liebe; das ist unser Glaube. Aber was umfasst Liebe, die vollkommen sein will? Sie umfasst Freiheit! Großeltern und Eltern erleben, dass sie unbedingt dazugehört. Wir gewähren sie Kindern und Enkelkindern, damit sie sich in und mit unserer spürbaren Liebe im Rahmen weniger Regeln, zur freien Persönlichkeit entwickeln können. So schenkte auch Gott uns Menschen die Freiheit. Zwar hatte er uns – wie ich denke – schon bei der Menschwerdung Verhaltenslichter ins Herz gelegt, später betont durch den Dekalog und ausgefaltet durch Jesus Christus. Aber dennoch: Dem Menschen kam von Anfang an Freiheit zu.

Der gewährten Freiheit wegen all dieses Leid? Ist Freiheit tatsächlich so wichtig für Gott, für uns Menschen? Wie hoch für Gott der Wert der Freiheit ist, ermisst sich vielleicht aus der Freiheit, die er seinen ersten Geschöpfen, den Engeln, gewährt hatte. Sogar sie konnten sich gegen oder für ihn entscheiden! Und wenn er dies dort schon zuließ, warum sollte er dies für seine irdischen Geschöpfe, auch für uns Menschen, nicht wollen? Wir entstanden im Laufe der Evolution, die er gewollt und mit seinem Schöpfergeist begleitet hat. Ohne das Prinzip Freiheit ist die Evolution nicht vorstellbar und auch nicht zu verstehen. Doch diese Freiheit machte das Verhalten der Menschen oft schlimmer als jenes der Tiere! Die dem Menschen von Anfang an ins Herz gepflanzten Regeln missachtend, lassen wir uns vom Bösen zum Bösen verführen. Aber: Wollen wir auf unsere Freiheit verzichten? Soll Gott alles, was uns bedrängt, uns leiden lässt, von uns fernhalten? Wollen vielleicht wir sogar eine Auswahl treffen, ihm vorschreiben, was er tun darf und soll und was nicht? Gott als Erfüllungsgehilfe? Wie und wo wären wir Menschen dann heute? Marionetten an Fäden? Hätten wir dann wirklich eine ‚gute‘ Welt?

Vielleicht möchte jemand so eine Welt bevorzugen. Aber würde sie uns wirklich gefallen? Ohne Abschiedsschmerz oder leidvolles Hinwarten auf etwas, gäbe es doch zwangsläufig weniger Sehnsucht, auch weniger tiefe Freude des Wiedersehens. Hätten wir, ins Extrem gesprochen, auf die zukünftige, transzendente Welt des unbeschreiblichen Glücks wirklich noch echte Sehnsucht, wenn wir ohne Leid und Schmerz in gewisser Weise wie in einem Verschnittparadies leben würden? Ins Kleinste einmal zurückgedacht: Wäre es sinnvoll, jeden schützenden oder auch lehrenden Schmerz zu vermeiden? Obwohl uns Schmerz und Leid helfen können, in Zukunft achtsamer zu sein? Zwar würden wir wiederholt keinen Schmerz, zum Beispiel am verbrannten Finger, verspüren, doch würden Funktionseinbußen zwangsläufig bald die Folge sein.

Doch verlassen wir nun noch einmal kurz die menschheitszentrierte Welt, die Freiheit, wie wir Menschen sie verstehen und blicken nochmals in die sich evolvierende Welt, in der am Ende die Menschheit steht.

Freiheit von Anfang an; das Prinzip Freiheit

Als Evolutionsbiologe möchte ich hier einmal den Begriff Freiheit in einer etwas umfassenderen Weise verwenden: Nicht nur der mehr anthropozentrisch fixierte Freiheitsbegriff, wie ihn Philosophie und Theologie meist verwenden, soll hier im Blick sein. So möchte ich vorschlagen, zu unterteilen in „Freiheit zur Entwicklung“, „Freiheit zur Entscheidung“ und „Freiheit des Willens“. Freiheit des Willens ist die umfassendste Freiheit, wie sie uns Menschen zukommt, und sie schließt die beiden anderen Freiheiten mit ein. Diese Differenzierung scheint mir notwendig, um die Qualitäten der Freiheit zu umschreiben, wie sie sich im Laufe der Schöpfungsgeschichte entwickelten.

Von Anfang an war die Erdkruste des Globus in Bewegung, getrieben von Strömungen zähflüssiger Schmelze darunter. Diese Landmassen veränderten, in sogenannte tektonische Platten zergliedert, über Jahrhundertemillionen hinweg immer wieder ihr Aussehen und ihre Lage auf der Erdkugel. Vereinten sie sich wieder, so türmten sich dabei Gebirge auf; Erdbeben verursachend, rutschten die Platten ruckartig aneinander vorbei, gaben Schlote in die Tiefe frei, vielfach endend in Vulkanen, die Gesteinsmaterial, Asche der Erdkruste auflagerten, Gase in die Atmosphäre bliesen. Die Platten zerteilten sich wieder, vereinten sich neu. Bis auf mindestens sechshundert Millionen Jahre zurück lassen sich solche Vorgänge nachweisen, oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen. Frei von Lenkung sind diese Vorgänge, bedrängten und bedrängen Lebewesen seit ihren ersten Tagen. Millionen davon starben aus; andere Organismen reagierten, genetisch sich an die neuen Bedingungen anpassend, entwickelten sich weiter zu neuen Arten, zu neuen Organismenverwandtschaften. Damit betrifft diese „Freiheit zur Entwicklung“ Landkrusten wie Organismen. Und dies zumindest über eine Zeitdauer von sechshundert Millionen Jahren, bevor der Mensch überhaupt in Erscheinung trat.

Als Zweites die „Freiheit zur Entscheidung“, hier nicht nur gemeint im Sinne von menschlichem Nachdenken, um Lösungen zu finden und danach zu handeln, sondern auch um eine ganz einfache – doch auch freie – Entscheidung zu treffen: sei es nur, zum Licht hinzuschwimmen, oder in der Dunkelheit zu verschwinden, Sauerstoff zu suchen oder ihn zu meiden. Diese Freiheit war sicher schon den ersten beweglichen Organismen, wie bestimmten Bakterien, tierischen Einzellern oder Algen gegeben. Solche Freiheitsnahmen lassen sich, je komplexer die Organismen wurden, immer mehr erkennen. Sie gipfeln darin, welche Beute fleischfressende Tiere sich suchen; oder ob ein pflanzenfressendes Tier einzelne Kräuter stehen lässt, weil sie unbekömmlich, vielleicht sogar giftig sind. Unzählige Beispiele ließen sich dafür in der belebten Welt anführen. Wer ein Tier beobachtet oder ein Haustier erlebt, kann dies verfolgen.

Ob bei höheren Tieren schon eine gewisse Willensfreiheit mitspielt? Wer mag dies entscheiden? Ja, ein freier Wille bestand vielleicht bei Schimpansen, als männliche Kampftrupps nach Beobachtung ihrer Umgebung in benachbarte Reviere eindrangen, Revierbesitzer umstellten, gemeinsam grausam vernichteten, um fremdes Land, was ihnen tatsächlich gelang, zu besiedeln. Sie unterscheiden sich kaum von Menschengruppen früher Jungsteinzeit, 5500 v. Chr. etwa, die eine Siedlung in gleicher Weise zerstörten, Bewohner mit Steinwerkzeugen erschlugen, vielleicht noch lebendig, ein eine Abfallgrube warfen.

Zu bedenken ist auch, dass Menschen von Anfang an auch freien Entscheidungen der Tiere unterworfen waren: Ob diese immer näher an den Menschen und seine Behausungen herankamen, ihn sogar bedrohten und als Beute betrachteten; ob sie ihn plötzlich als Parasiten befielen, als oft tödliche Keime in der Evolution entstanden; oder ob Tiere dem Menschen einfach Konkurrenten um Nahrung waren.

Der Mensch wird dann im Zuge seiner Entstehung – sei es nun als Neanderthaler (Homo neandertalesis), Homo erectus (Aufrechter Mensch) oder Homo sapiens, zu dem wir uns rechnen, vielleicht auch schon frühere Menschenspezies oder deren Vorläufer – immer mehr, mit größer werdendem Gehirn und komplexerem Umfeld, eine Freiheit des Willens entwickelt haben. Der Intellekt war fähig geworden zur Abwägung von Für und Wider, zur Erinnerung von Vergangenem, zum Erzählen von Erfahrungen, zu vorausschauendem Denken und Handeln, zum Erkennen von Liebe und Hass. Jetzt, so scheint mir, konnte Gott sich offenbaren, denn es gab Augen und Ohren, ein inneres Empfinden, womit der Mensch erkennen konnte. Jetzt begann die Offenbarungsgeschichte, meine ich, wie wir sie aus der Heiligen Schrift kennen. Und sie konnten Gott jetzt erkennen, als er sich offenbarte. Weil Gott aber die Liebe ist und immer schon die Liebe war, erkannten sie auch seine Liebe! Gott hauchte ihnen in Liebe nun seinen Atem ein. So beginnt das qualitativ Neue in der Menschheitsgeschichte, wobei Gott der zuerst Handelnde, sich offenbarende ist. Damit ist den Menschen von Gott her ein Lebensodem, auch ein Schöpfergeist mitgegeben worden, das, was wir Seele nennen; der Körper ist jetzt zum Leib geworden, was den Menschen – als Homo sapiens? –  von Vor- und Frühmenschen unterscheidet. Das ist das Bild der Bibel für die Erschaffung des Menschen als sein Abbild. Jetzt ist der Mensch wirklicher Mensch, nicht mehr nur Höheres Säugetier. Er hat nun durch diese „Odem“-Gabe, mit der ihm Gott wohl auch Grundsätzliches in sein Herz legte, auch eine Aufgabe für die gesamte Welt und konnte seine Willensfreiheit für Positives und Negatives, für Gutes und Böses, einsetzen. Womit auch „Menschenbedingtes Leid“ den Anfang nahm.

Dennoch: Frei blieb der Wille! So frei sogar, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Die Episode in der Bibel mit Adam und Eva und den einzigen von Gott ihnen vorenthalten Baumfrüchten, verdeutlicht dies in beeindruckender Weise. Diese freie Willensentscheidung ermöglichte es, sich für Gottes Wunsch zu entscheiden oder dagegen. Damit kam die Chance des Satans – falls er nicht auch schon früher wirkte sobald Menschen mit Willensfreiheit lebten. – Die geschenkte Freiheit wird von Menschen auch für Böses missbraucht. Offenbar ist der Freiheitsgedanke, die Freiheitsliebe Gottes so groß, dass er Leid um der gewährten Freiheit willen in Kauf nimmt.

Freiheit als Geschenk vollkommener Liebe ist damit der Grund alles existierenden Leids: Freiheit, die Gott in seine von ihm angestoßene Evolution, vom Urknall beginnend, legte, durch Naturkonstanten in gewisse Bahnen lenkte. Womöglich stellte er die eine oder andere Weiche, um am Ende den Menschen zu sehen und mit ihm Kontakt aufnehmen zu können und sich ihm endlich offenbaren zu können. Aus der geschenkten Freiheit, die offensichtlich für Gott eines der höchsten Güter ist, erwächst allerdings für uns Menschen Verantwortung. Verantwortung heißt auch Antwort geben können demjenigen, der die Freiheit geschenkt hat und der dem Geschenk der Freiheit auch eine Norm anfügte: ‚Wähle das Leben‘.

So bleibt am Ende die Frage: Warum hat Gott die Welt überhaupt gewollt, nachdem sie mit so viel Leid verbunden ist?

Dies ist die eigentliche Frage, die es zu stellen gilt; nicht allein die Frage der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes für das Leid. Es war die Freiheit Gottes – in göttlichem Willen und Plan – die Welt zu erschaffen. Gott beantwortet hierzu keine Fragen. Und hätte er nicht diese vollkommene Freiheit, dann wäre er nicht Gott.

In all dem Leid aber bietet Gott in seiner Liebe den Geschöpfen Tröstung und ewige Glückseligkeit an.